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Prof. Dr. Ina Nitschke

Ein Leben für die Seniorenzahnmedizin

Gerne wird sie auch „Päpstin der Seniorenzahnmedizin“ genannt. Denn Professor Ina Nitschke hat die Seniorenzahnmedizin entscheidend mitentwickelt. Sie hat zwei Professuren und unterrichtet sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland.


Ihre Leistungen und ihr Lebenswerk im Einzelnen aufzuzählen, würde einige Seiten füllen. Stattdessen kann man den Wert ihrer Arbeit auch daran festmachen, welche Auszeichnungen sie dafür bereits erhalten hat. Die beiden Wichtigsten sind zum einen die renommierte Tholuck-Medaille. Zum anderen hat sie Ende Januar die höchste Auszeichnung für gesellschaftliches Engagement bekommen: das Bundesverdienstkreuz. Im Interview mit dem RZB verrät Prof. Ina Nitschke, wie sie zur Seniorenzahnmedizin gelangt ist und was aus ihrer Sicht noch alles zu tun ist.

RZB: Sie haben einen Großteil Ihres Wirkens der Seniorenzahnmedizin gewidmet. Was war damals der Auslöser bei Ihnen?
Prof. Nitschke: Es war ein sehr persönliches Erlebnis. Ich hatte im August 1983 meine Approbation erhalten und war frische Assistenzzahnärztin geworden. Zu der Zeit lag meine Großmutter im Krankenhaus und mit ihr auf dem Zimmer lag eine ältere, verdiente Lehrerin. Meine Großmutter hatte damals eine Druckstelle an ihrer Prothese und da ich auch gelernte Zahntechnikerin bin, habe ich mich dann auch getraut, an der Prothese zu arbeiten. Da ältere Menschen oft Gewicht verlieren, sind Prothesendruckstellen ein sehr oft auftretendes Problem. Auch die Bettnachbarin hatte eine solche Druckstelle. Also habe ich den Arzt gefragt, ob ich der Dame auch helfen darf. Seine Antwort war: Nein, das dürfen Sie nicht und es lohnt sich auch nicht, weil sie eh nicht mehr so lange lebt. Ich war damals 23 Jahre jung, bin dem ärztlichen Anweisung des Nichtstuns gefolgt, aber mein Bauchgefühl hat mir gesagt, dass da irgendwas nicht stimmt. Es wäre für mich so einfach gewesen, da zu helfen, aber ich habe mich nicht getraut. Ich war einfach zu jung, um dem Arzt die Stirn zu bieten. Dieses Erlebnis hat mich lange Zeit berührt und beschäftigt, so dass ich angefangen habe, zu schauen, was es auf dem Gebiet der Zahnmedizin für Senioren gibt, um den älteren Menschen zu helfen. So bin ich dann da reingeschlittert.

RZB: Und wie ging es dann weiter?
Nitschke: Ich habe dann bei der damaligen „Berliner Altersstudie“ mitgemacht. Da waren Mediziner, Soziologen, Psychologen und andere Disziplinen. Eine große Studie, in der man versucht hatte, ein umfassendes Bild von Menschen über 70 Jahren zu bekommen. Und ich konnte da innerhalb der Medizin meinen Fuß reinkriegen, dass auch zahnmedizinische Daten erhoben werden. In Fünf-Jahres-Intervallen wurden Daten erhoben. Wir hatten damit erstmals Daten, wie viele Zähne beispielsweise über 95-Jährige noch haben. Gleichzeitig bin ich dadurch in die multidisziplinäre Forschung reingerutscht.

RZB: Seniorenzahnmedizin war also absolutes Neuland in Deutschland?
Nitschke: Es gab damals vielleicht sechs, sieben Leute in Deutschland, die sich dafür interessierten. Und nach dem Fall der Mauer haben wir unter dem Gründungspräsidenten Dr. Klaus-Peter Wefers dann den Arbeitskreis für Gerostomatologie 1990 gegründet. Da war ich Mitglied im Vorstand. Zehn Jahre später haben wir daraus dann die „Deutsche Gesellschaft für Alterszahnmedizin“ gegründet. Kleine Anekdote: Damals durfte sich ein Verein nur „Deutsche Gesellschaft“ nennen, wenn jedes Bundesland vertreten war. Und so kurz nach dem Mauerfall hatten wir natürlich nicht überall hin Kontakte in die neuen Bundesländer. Daher haben wir uns 1990 erst einmal „Arbeitskreis“ nennen müssen.

RZB: Was hat sich seitdem geändert?
Nitschke: Sehr, sehr viel, würde ich sagen. Damals war Seniorenzahnmedizin fast nur prothetisch orientiert. Das hat sich total gewandelt. Inzwischen sind wir eine bunte Mischung aus den verschiedenen Universitätsabteilungen. Wir freuen uns über Zahnerhalter, Prothetiker, Präventionszahnmediziner. Was uns fehlt, sind Kieferorthopäden, sonst haben wir inzwischen jede Fachrichtung dabei. Das brauchen wir auch, denn vereinfacht gesagt ist die Zahnlosigkeit gesunken. Das werden auch die nächsten Zahlen aus der sechsten DMS-Studie zeigen.

RZB: Bedeutet das, dass die Seniorenzahnmedizin komplexer wird?
Nitschke: Absolut. Wir haben die fitten Senioren, die Gebrechlichen und die Pflegebedürftigen. Und jede Gruppe ist sehr heterogen und jeder hat eigene Ansprüche. Früher war es fast immer so, dass Ältere, die in der Pflegeeinrichtung wohnen, keine Zähne mehr hatten. Wenn ein Problem aufgetaucht ist, dann wurden die Prothesen herausgenommen, bis dann irgendwann ein Zahnarzt vorbeigekommen ist. Inzwischen ist es nicht mehr so einfach. Viele haben Zähne, die geputzt und gepflegt werden müssen. Und das ist die große Herausforderung, die wir jetzt haben. Deswegen haben wir diesen „Expertenstandard Mundgesundheit in der Pflege“ als Zahnärzte zusammen mit der Pflege schreiben dürfen.

RZB: Was ist dieser „Expertenstandard Mundgesundheit in der Pflege“?
Nitschke: Diese Expertenstandards sind vergleichbar mit den Leitlinien in der Medizin. Normalerweise werden die Expertenstandards für die Pflege immer nur von den Pflegekräften beschrieben, die wollen keinen Einfluss von den Medizinern in die Pflege haben. Aber weil wir es angeregt haben, durften auch fünf Zahnärzte mit dabei sein. Da waren unter anderem für die Seniorenzahnmedizin Dr. Elmar Ludwig und ich dabei. Dann waren noch zwei Leute aus der Zahnmedizin für Menschen mit Beeinträchtigungen mit dabei, Prof. Andreas Schulte sowie Prof. Dr. Roswitha Heinrich-Weltzien und dann Herr Ziller von der Bundeszahnärztekammer. Jetzt geht es darum, diesen Expertenstandard umzusetzen. Wir Zahnärzte sind nun aufgefordert bei der Umsetzung zu helfen und das Konzept speziell für jede Einrichtung zu individualisieren. Denn der Expertenstandard gilt sowohl für die Kinder-Onkologie in München wie die Altenpflegeeinrichtung in Düsseldorf oder auch die Viszeralchirurgie an der Charité in Berlin. Überall wo Pflege benötigt wird, gilt dieser Expertenstandard. Das bedeutet, dass die Kooperationszahnärzte mit der Fortbildung der Pflegekräfte helfen, die nötigen Hilfsmittel zu benennen. Bei der Fortbildung einer speziellen Mund-Pflegefachkraft, die als Ansprechpartner dann auch für den Zahnarzt zur Verfügung steht, kann der Zahnarzt und sein Team unterstützen. Der Expertenstandard muss jetzt mit Leben gefüllt werden, jede Einrichtung ist angesprochen, ihn zu individualisieren nach den lokalen Bedarfen.

RZB: Der Expertenstandard ist also ein wichtige Zukunftsaufgabe der Seniorenzahnmedizin. Was ist noch wichtige für die Zukunft?
Nitschke: Die Ausbildung der zukünftigen Kolleginnen und Kollegen. Sie fit zu machen für die heterogene Gruppe der Senioren. Das sollte nicht nur theoretisch sein, sondern das sollte auch praktisch sein. Das würde die Schwelle senken, sich mit gebrechlichen und pflegebedürftigen Menschen auseinander zu setzen. Wenn man im Studium schon in einer Pflegeeinrichtung war, dann ist es als niedergelassener oder als Assistenz-Zahnarzt leichter dort aktiv zu werden. Es wird dann normal und ist nichts „Exotisches“. Die neue Approbationsordnung gibt es bereits vor, nun müssen die Universitäten das noch konsequenter umsetzen. Die zweite große Herausforderung ist die riesige und schnellwachsende Gruppe an älteren Menschen mit Pflegebedarf, die Zuhause leben. Die Pflegeeinrichtungen nehmen ja gerade einmal 16% der älteren Menschen mit Pflegebedarf auf. Das heißt, ein großer Teil, auch darunter manchmal schwer pflegebedürftiger Menschen, wird Zuhause von Angehörigen und mobilen Pflegediensten betreut. Gerade auch, wenn die älteren Menschen nicht mehr so ohne Weiteres in die Zahnarztpraxis kommen können, sollten wir diese Patientinnen und Patienten nicht aus der zahnmedizinischen Betreuung verlieren. Dazu gehört natürlich, dass wir die pflegenden Angehörigen und die mobilen Pflegedienste unterstützen. Dennoch: Die Versorgung ist noch nicht optimal organisiert, da müssen wir über andere Strukturen nachdenken, als wir sie jetzt haben.

RZB: Und welche könnten das sein?
Nitschke: Das ist eine schwierige Frage. Wir sprechen da von der Transition der Patienten, also die Wahrnehmung eines Problems und dann die Überleitung, sprich Transition des Patienten in ein anderes Betreuungssystem. Wir sollten ein gerostomatologisches Versorgungsmodell entwickeln. Ich glaube, dass die niedergelassene Zahnarztpraxis das nicht alleine leisten kann und wir brauchen zahnmedizinische Pflegestützpunkte für die Menschen mit ambulanten Pflegebedarf. Sie machen 84 % aller Menschen mit Pflegebedarf aus. Im Pflegestützpunkt könnte entschieden werden, wie und wo die richtige zahnmedizinische Behandlung stattfinden kann: Zu Hause, in einer Praxis oder sogar in einer Klink. Da müssten die Krankenkassen dann dabei sein und vor allem die Hausärzte müssten mitmachen. Sie könnten Überweisungen ausstellen an diesen medizinischen Pflegestützpunkt, wenn ihnen etwas in der Mundhöhle auffällt. Der Hausarzt sieht seine älteren Patienten meist regelmäßiger als der Zahnarzt.

RZB: Ich würde gerne nochmal auf die pflegenden Angehörigen zurückkommen. Was kann man da machen?
Nitschke: Die sind natürlich total wichtig. Auch hier ist noch viel Arbeit zu leisten. Ich sage es mal so: Für uns alle ist es selbstverständlich, dass Eltern ihren Kindern beim Zähneputzen helfen. Aber es ist gesellschaftlich noch ganz und gar nicht verankert, dass wir Kinder unseren Eltern beim Zähneputzen helfen. Und da müssen wir hin. Das fängt bei der einfachen Frage an die Mutter an, wann sie ihre Zahnbürste das letzte Mal gewechselt hat, und geht bis zur Anleitung, wie die Prothese des bettlägerigen Vaters richtig entfernt und gereinigt wird.

RZB: Viele und große Aufgaben also noch für die Seniorenzahnmedizin. Aber Sie haben ja auch schon viel erreicht. Dafür haben Sie Ende Januar das Bundesverdienstkreuz erhalten. Was macht das mit einem?
Nitschke: Als der Brief von der Staatskanzlei bei mir ankam, habe ich im ersten Moment gedacht, es sei ein Strafzettel, weil ich womöglich zu schnell gefahren bin. Und als ich den Brief dann geöffnet habe, konnte ich es im ersten Moment nicht glauben.

RZB: Das war also sehr überraschend. Was haben Sie im zweiten Moment gedacht?
Nitschke: Vor allem habe ich mich gefreut, weil ich glaube, dass ich das Bundesverdienstkreuz stellvertretend für alle Kolleginnen und Kollegen bekommen habe, die jeden Tag fleißig draußen sind, jeden Tag ihre Kraft den Senioren widmen und in die Pflegeeinrichtungen fahren.

RZB: Sie haben all Ihr Wissen inzwischen in verschiedene Bücher zusammengefasst. Sind das wissenschaftliche Bücher, oder sind die für den Praktiker?
Nitschke: Die Bücher sind für Praktiker. Unser letztes Buch hat den Titel „Mobile Zahnmedizin“. Es geht um die aufsuchende Versorgung, wie man sie auch nennt. Da ist mit vielen Leuten viel praktisches Wissen zusammengeschrieben worden. Dort findet man ein kleines Konzept, wenn man eine Befundung vor Ort machen möchte. Dann haben wir ein mittleres Konzept, mit dem kleinere Behandlungen vor Ort durchgeführt werden können. Und zum Schluss das große Konzept, für diejenigen, die mit größeren Teams jeden Tag herausfahren wollen.

RZB: Warum haben Sie drei unterschiedliche Konzepte entwickelt?
Nitschke: Ich sage mal, jeder Zahnarzt soll so anfangen, wie es für seine Praxis ganz gut passt. Wenn also jemand in seinem Ort eine Einrichtung betreuen möchte, dann fängt man vielleicht klein an. Wenn man dann Mitarbeiter hat, denen es auch Spaß macht, dann wächst das kontinuierlich und wird ein Teil in der Praxisarbeit.

RZB: Mitarbeiter sind offenbar noch wichtiger als bei der normalen Praxisarbeit: Ist es schwer, sie für die aufsuchende Behandlung zu begeistern?
Nitschke: Was ich immer wieder merke ist, dass Mitarbeiter Freude haben, wenn sie rausgehen. Erstens ist es eine willkommene Abwechslung und zweitens sind die älteren Herrschaften auch sehr dankbar. Das ist etwas, was wir nicht immer im Alltag erleben, dass die Patienten nett und freundlich sind. Und dort sind die Menschen oft dankbar, dass jemand kommt und diese blöde schmerzende Druckstelle in Angriff nimmt, dass es wieder heilt. Das ist einfach toll und macht auch den Mitarbeitern meist großen Spaß.

RZB: Und gibt es immer nur Sonnen- oder gibt es auch Schattenseiten?
Nitschke: Klar gibt es Schattenseiten. Ein Beispiel: Sie werden von einer Pflegeeinrichtung angerufen, weil ein Zahn abgebrochen sei. Dann fährt man sofort hin, weil man denkt, dass der Patient ganz starke Schmerzen hat. In der Pflegeeinrichtung eingetroffen, stellt man fest, dass ein Zahn aus der Prothese herausgebrochen ist. Der Besuch hätte auch am nächsten Tag stattfinden können. Ich denke, jeder der in der Seniorenzahnmedizin unterwegs ist, kennt so etwas oder ähnliche Situationen. Dennoch: Die meisten Zahnärzte nehmen das auf sich und das macht mich stolz.

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