Im Interview berichtet Prof. Dr. A. Rainer Jordan, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts der Deutschen Zahnärzte, über die Bedeutung der Gruppenprophylaxe für sozial benachteiligte Kinder, den Einfluss einer Zuckersteuer und welche Ergebnisse der Sechsten Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS • 6) ihn überrascht haben.
Herr Prof. Dr. Jordan, trotz der Erfolge in der Kariesprophylaxe zeigen die Studienergebnisse auch einen Zusammenhang zwischen Karies und soziodemographischen Merkmalen wie Bildung und Herkunft. Wie können Kinder aus diesen Schichten besser erreicht werden?
Prof. Dr. A. Rainer Jordan Durch die Studienergebnisse wissen wir, dass die Individualprophylaxe in den Praxen soziale Unterschiede von Kindern ausgleichen kann, denn eine Fissurenversiegelung ist eine wirksame Maßnahme für Kariesfreiheit. Das Problem dabei ist jedoch das sogenannte Komm-Prinzip, sprich, die Kinder müssen in die Praxis kommen. Deshalb kommt der Gruppenprophylaxe in Kindergärten und Schulen weiterhin eine bedeutende Rolle zu, um alle Kinder niedrigschwellig zu erreichen. Dabei sollte auch die Vermittlung von Wissen zu Zahnpflege und Zahngesundheit in die Lehrpläne integriert werden, um Kinder besser zu sensibilisieren. Ein weiterer Ansatz wäre, dass Zahnärzte und ZFA mit Migrationserfahrung selbst als Multiplikatoren in ihrer Community auftreten, da sie beispielsweise durch Sprachkenntnisse einen besseren Zugang zu bestimmten Bevölkerungsgruppen haben.
Könnte Ihrer Meinung nach auch eine Zuckersteuer einen positiven Effekt haben?
Prof. Dr. A. Rainer Jordan Aus sozialmedizinischer Sicht ja. Alle Maßnahmen, bei denen der Konsument „ohne viel nachzudenken“ eine gesundheitsförderliche Entscheidung treffen kann – das gilt beispielsweise auch für fluoridierte Speisesalze – können mit wenig Aufwand einen großen Effekt erzielen. In England hat sich die positive Wirkung einer Zuckersteuer gezeigt: Allein schon die Ankündigung eines solchen Gesetzes motivierte Hersteller, den Zuckeranteil in Erfischungsgetränken zu reduzieren. Davon profitieren vor allem Kinder. Denn ihnen fehlt noch das Wissen, die Auswirkungen von Zuckerkonsum auf ihre Gesundheit einschätzen zu können. Das haben auch unsere Daten gezeigt, da insbesondere bei Kindern ein Zusammenhang zwischen Karies und Zuckerkonsum zu beobachten war.
Dass Prävention wirkt, hat sich auch bei den Ergebnissen der älteren Studienteilnehmer gezeigt, die heute über deutlich mehr eigene Zähne als früher verfügen. Inwieweit verändert sich dadurch der Anspruch an Zahnmediziner?
Prof. Dr. A. Rainer Jordan Der Stellenwert der Individualprophylaxe im Alter nimmt noch einmal deutlich zu. Denn bei älteren Menschen lässt die Leistung des Immunsystems nach, Medikamente mindern den Speichelfluss und auch die motorischen Fähigkeiten beim Zähneputzen nehmen ab. Das steigert das Risiko für Zahnerkrankungen. Auch Pflegepersonal und pflegenden Angehörigen müssen in die Prophylaxe integriert werden.
Die DMS • 6 zeigt einen Zusammenhang zwischen Mundgesundheit und kardiovaskulären Erkrankungen. Welche Bedeutung hat eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Human- und Zahnmedizinern?
Prof. Dr. A. Rainer Jordan Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben im Schnitt zwei Zähne weniger als gesunde Personen. Das muss nicht sein, deshalb halte ich es für wichtig, die künstliche Trennung zwischen Human- und Zahnmedizin, die historisch bedingt ist, aufzubrechen. Meine Erfahrung zeigt, dass Allgemeinmediziner zwar die Zahnmedizin weniger im Blick haben, aber offen für eine intensivere Kooperation sind. Deshalb sollte da ein Impuls vonseiten der Zahnmedizin ausgehen, zum Beispiel bei der Definition gemeinsamer Risikofaktoren. Da wären wir auch wieder beim Thema Zucker, der sowohl in Hinblick auf Karies als auch zum Beispiel Diabetes relevant ist.
Sie forschen seit vielen Jahren zum Thema Mundgesundheit und kennen die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte auf diesem Gebiet genau. Gibt es trotzdem Ergebnisse der DMS • 6, die Sie überrascht haben?
Prof. Dr. A. Rainer Jordan Ja, der Rückgang des Anteils zahnloser Personen. Dieser hatte sich bereits zwischen der DMS IV im Jahr 2005 und der DMS V 2014 von 22 auf zwölf Prozent fast halbiert, was sich damals unter anderem mit der Einführung des Festzuschusses für Zahnersatz erklären ließ, der es begünstigte, einzelne Zähne zu erhalten. Dass sich die Zahl der Menschen ohne eigene Zähne mit fünf Prozent nun noch einmal mehr als halbiert hat, lässt sich mit so einer Maßnahme dieses Mal nicht erklären. Denn seither hat sich nichts Grundlegendes verändert, zudem greifen Präventionskonzepte in der Regel nicht in so kurzer Zeit. Erst recht nicht bei dem Verlust aller Zähne, ein Prozess, der ja über Jahrzehnte andauert. Deshalb hat mich diese Zahl überrascht – aber gleichzeitig gefreut, denn das ist zweifelsohne eine positive Entwicklung.
Das Gespräch führte Daniel Schrader